Die BND/NSA-Affäre zeigt, wie gut eine Gesellschaft systematische Rechtsbrüche verdrängen kann, die zwar im Grunde jedem bekannt sind, aber im Verborgenen stattfinden. Die Aufregung um die mehr oder weniger unfreiwillige Gehilfenstellung des BND bei der NSA-Spionage gegen europäische Diplomatie und Wirtschaft ist insoweit auch Ausdruck unserer erlernten kollektiven Schizophrenie. Die kritischen Fragen sind deshalb aber nicht weniger notwendig. Bedenklich ist daher, dass nicht nur die Regierung die aufgeflammte Diskussion schnellstmöglich beenden möchte, sondern auch einzelne Pressestimmen. Sie dürfen kein Gehör finden.
Ringtausch abgehörter Daten war bekannt – und rechtswidrig
Hintergrund der gegenwärtigen Vorwürfe ist, dass der BND für die NSA im Ausland stattfindende Kommunikation abgefangen und an die NSA weitergeleitet hat. Dahinter steht das Konzept des sog. “Ringtauschs” von Informationen unter befreundeten Geheimdiensten. Dieses dient nicht nur der Erschließung von Synergien hinsichtlich der Lauschkapazität, sondern auch der Umgehung von Schutzvorschriften gegen das Abhören von Inlandskommunikation. Denn diese gesetzlichen Beschränkungen der Abhörtätigkeit im Inland lassen sich teilweise aushebeln, indem die geschützte Kommunikation einfach von einem befreundeten Nachrichtendienst erworben wird. Eine entsprechende Umgehungabsicht hatte ein BND-Mitarbeiter im NSA-Ausschuss allerdings bestritten (in Bezug auf die in Frankfurt abgegriffene Internetkommunikation).
Die Datenübermittlung des BND an die NSA in dieser Form ist schon länger bekannt. Schon vor einem Jahr haben die dazu im NSA-Untersuchungsausschuss angehörten ehemaligen Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier und Wolfgang Hoffmann-Riehm sie grundsätzlich als verfassungwidrig eingestuft. Hieran ändert es auch nichts, dass E-Mail-Kommunikation von Adressen mit den Endungen “.de” und “.eu” offenbar ausgefiltert wurde. Denn selbst wenn alle Adressen deutscher Nutzer ausgefiltert worden wären, fehlt auch für die Erfassung und Weiterleitung der übrigen Kommunikation eine Rechtsgrundlage. Eine solche rechtliche Grundlage ist aber erforderlich. Denn auch Menschen im Ausland sind von der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes erfasst. Auch ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird daher vom Grundgesetz geschützt. Der BND als deutscher Dienst ist daran gebunden und benötigt für Eingriffe in dieses Grundrecht eine gesetzliche Ermächtigung.
Gesetzliche Neuordnung erforderlich – Selektoren-Problematik ist nur das I-Tüpfelchen
Das grundlegende Problem ist demnach die Ansicht des BND, im Ausland alles zu dürfen (siehe hierzu auch das Interview mit dem Strafrechtler Nikolaos Gazeas). Schon das muss dazu führen, dass grundlegend über die Schaffung der fehlenden Gesetzesgrundlage nachgedacht wird. Stattdessen füllen Regierung und BND das vermeintliche rechtliche Vakuum durch – natürlich geheime – internationale Abkommen zur nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit. In Verbindung mit dem traditionellen Fehlen einer effektiven und transparenten Kontrolle der Geheimdienste ist dies ein nicht hinnehmbarer Angriff auf unsere Verfassungsordnung.
Dass der BND sich im Rahmen der Datenweitergabe – wenn sich die Berichte bestätigen – von der NSA zur Spionage gegen deutsche und europäische Interessen hat instrumentalisieren lassen, ist nur ein zusätzliches erschreckendes Detail. Nicht überraschend sein kann dabei die Erkenntnis, dass die NSA in erster Linie amerikanischen Interessen verpflichtet ist und diese ohne besondere Rücksichten verfolgt. Der robuste Ansatz der Aufklärungsdienste der UK-USA-Allianz ist schon seit Jahrzehnten bekannt und spätestens seit dem Echelon-Bericht an das EU-Parlament auch öffentlich. Sollten die von der NSA übermittelten Spähziele (“Selektoren”) daher tatsächlich erst im Nachhinein sorgfältig auf Kollision mit deutschen und europäischen Interessen geprüft worden sein, hätte sich der BND hier bestenfalls sehr naiv, schlimmstenfalls auch strafbar verhalten. Nochmals: diese Frage ist aber nur ein Puzzleteil in einem größeren Problemfeld.
Kritische Berichterstattung vs. US-Lobbyismus und Sicherheitsfanatismus
Ohne die Presseberichterstattung der vergangenen Tage – und Jahre – würden wir ganz im Dunkeln tappen. Es gäbe dann keine Chance, jemals in einen Dialog über eine gesetzliche Neuordnung der Geheimdiensttätigkeit einzutreten. Die Verantwortung der Presse für unser Gemeinwohl ist dabei nicht hoch genug einzuschätzen. Eine große Zahl investigativer Journalisten leistet hier wertvolle Beiträge.
Unverständlich für einen renommierten Journalisten sind hingegen die Kommentare des FAZ-Redakteurs Jasper von Altenbockum, seines Zeichens verantwortlich für Innenpolitik. Scheinbar alarmiert klang noch seine Stellungnahme vom 23.04., wobei er aus den neuen Vorwürfen aber bereits schlussfolgerte, dass keine Massenüberwachung stattfinde und das Spektakel letztlich nur zeige, dass die Bundesregierung die Vorwürfe ernst nehme. Schon am 24.04. ging von Altenbockum dann zum offenen Kampf gegen jegliche Kritik an den Geheimdiensten über – und stellte ihr seine erschreckend einfache Weltsicht entgegen:
Ohne diese Zusammenarbeit wäre die Sicherheit Deutschlands gefährdet. Da das so ist, haben alle diese Angriffe für die Arbeit des BND untergeordnete Bedeutung. Viel wichtiger sind: Russland, China, Terror.
Schärfer noch wurde der Ton am 29.04. (“Lüge! Verrat! Volksverräter”): Die Opposition steigere sich in vollkommen überzogene Vorwürfe. Ein Innenminister müsse parlamentarische Anfragen nicht so beantworten, wie sich “Boulevardjournalisten” das zurechtlegten. Überhaupt würde “die Geschichte bröseln und bröseln” – “vielleicht ging es auch um Rüstungskontrolle, um Proliferation, um Aufklärung – oder um gar nichts”. Es folgten ein Verriss der Talkrunde bei Anne Will und als vorläufiger Höhepunkt der Kommentar “Jenseits der Wirklichkeit”, in dem von Altenbockum als Wurzel der Skandalisierung nicht den Wunsch nach Freiheit, sonder schlichte Unkenntnis der komplexen Wirklichkeit ausmacht. Die Wirklichkeit aber – man ahnt es schon – “besteht aus Russland und China, aus Arabellion, Syrien und dem Irak, aus der schlagartigen Vervielfältigung salafistischer Extremisten”. Den Abschluss bildet – nicht zum ersten Mal – ein perfider Vergleich zwischen der Kritik an der gegenwärtigen Geheimdiensttätigkeit und -politik und dem Nazitum: Die “hysterischen Ausfälle” der Kritiker knüpften an deutsche Traditionen an, die man lieber vermeiden solle. Die Logik dieser Verknüpfung ist zu krude, um sie hier wiederzugeben.
Bei aller gebotenen Sorge um die Sicherheit sollten Berichterstatter und Kommentatoren sich ihrer gesellschaftlichen Veranwortung bewusst bleiben und den moralischen Kompass nicht aus den Augen verlieren. Neben den Kommentaren von Altenbockums fand ich jüngst auch die Bemerkung seiner Redaktions-Kollegin Iskandar zu dem Hinweis auf das Terroristen-Paar in Oberursel unglücklich: “In diesem Fall war es eine Baumarkt-Mitarbeiterin, das nächste Mal könnte es ein Nachbar sein.” Natürlich sollten Bürger wachsam sein und geplante Terorakte wie auch Verdachtsmomente melden. Aber diese Wachsamkeit und der öffentliche Aufruf dazu hat Grenzen – die Terrorbekämpfung kann nicht als Aufgabe vom Staat auf die Gesellschaft ausgelagert werden. Einen Spitzel- und Denunziantenstaat kann sich niemand wünschen.
Die Balance aus Freiheit und Sicherheit
Zum Glück kann unsere gefestigte pluralistische Diskussionskultur Kommentarstimmen wie die von Altenbockums zweifellos ertragen. Sie dürfen aber nicht zur Grundlage werden für die – spätestens nach Abschluss der Arbeit des NSA-Ausschusses erforderliche – Diskussion über die richtige Balance aus Freiheit und Sicherheit. Denn eine solche Diskussion muss auf dem Boden unserer Verfassung geführt werden. Sicherheit ist dabei zweifellos ein hohes Gut. Es geht aber nicht an, sie – wie einst Innenminister Friedrich – als ungeschriebenes “Supergrundrecht” über alles zu stellen. Ebensowenig geht es an, die Interessen ausländischer Mächte per se in nationale Interessen umzudefinieren.
Im Übrigen sind nach meiner persönlichen Erfahrung viele US-Amerikaner in der Frage der Überwachung sehr reflektiert und nicht selten kritisch. Dies konnte ich z.B. 2014 bei einem gemeinsamen Vortrag mit Kurt Opsahl von der Electronic Frontier Foundation vor der deutsch-amerikanischen Juristenvereinigung zum Thema NSA-Affäre erleben. Die anschließende Podiumsdiskussion wurde erfrischend offen geführt. Niemandem der Anwesenden wäre es damals in den Sinn gekommen, kritischen Fragestellern faschistoides Denken vorzuhalten.